Aug 2016

eine krähe ohne Mund 1


gedichte des zenmeisters ikkyu
in der version des
amerikanischen poeten
stephen berg


copyright 1989, 2000 stephen berg
alle rechte vorbehalten
übersetzt ins deutsche
von jean lessenich und robert kuhn


Ikkyu-Sojun


hinweis: die zwei anekdoten in der einleitung, über ninagawa und shuko, sowie die beiden gedichte “leere ist form” und “form ist leere”, übersetzt von lucien stryk und takashi ikemoto, sind aus "zen: poems, prayers, sermons, anecdotes, interwiews" (2nd edition 1981); abdruck mit erlaubnis von swallow/ohio university press. ikkyus sterbegedicht am ende der einleitung ist aus "zen poems of china and japan: the crane’s bill" (evergreen edition, 1987), übersetzt von lucien stryke und takashi ikemoto; abdruck mit erlaubnis von grove press für masao abe und meinen lieben freund jeff, Stephen Berg


einleitung
als ninagawa-shinzaemon, poet und zen schüler, hörte, dass ikkyu, abt des berühmten daitokuji der rinzai schule des zen in murasakino (auf dem lila felde), einem stadtteil kyotos, ein bedeutender meister sei, wünschte er, sein schüler zu werden. er ging zum tor des tempels und rief nach ikkyu. es ergab sich folgender dialog:

ikkyu: wer bist du?
ninagawa: ein schüler des buddhismus.
ikkyu: wo kommst du her?
ninagawa: aus deiner gegend.
ikkyu: ah, und was passiert dort in diesen tagen?
ninagawa: die krähen krähen, die spatzen zwitschern.
ikkyu: und wo denkst du, sind sie jetzt?
ninagawa: in einem feld von violetter farbe.
ikkyu: warum?
ninagawa: miscanthus, lila prunkwinden, färberdisteln, astern, chrysanthemen.
ikkyu: und wenn sie gegangen sind?
ninagawa: dann wird man es das herbstfeld nennen.
ikkyu: was passiert auf dem feld?
ninagawa: der fluss fließt durch, der wind weht darüber.


begeistert über ninagawas zen-sprache lud ikkyu ihn ein, servierte ihm tee und sprach das folgende spontane gedicht:

ich möchte dir delikatessen servieren,
aber ach!
das zen kann dir nur nichts bieten


darauf antwortete ninagawa mit folgendem gedicht:

der geist, welcher mich treibt zum nichts,
ist die ursprüngliche leere
eine delikatesse der delikatessen


tief berührt sprach der meister: mein sohn,du hast viel gelernt.

diese worte sprechend erinnerte sich ikkyu möglicherweise der harten behandlung, die er von seinem zweiten meister, kaso sodon, unter denselben umständen erhalten hatte. kaso ignorierte ihn vollkommen, während er fünf tage ausserhalb des tempeltores wartete, und die schüler ihm wasser über das haupt schütteten. es hätte noch mehr dazu gehört, um diesem schüler seinen mut zu nehmen. letztlich akzeptierte kaso ihn. es war sicherlich nicht die güte ikkyus, welche ninagawa den mut gab, bei ikkyu vorzusprechen, dessen ruf anlass zum fürchten gab. im gegenteil: alles was er gehört hatte über den berühmten meister, poeten und maler, sprach dafür, dass es diesem gefallen würde, wenn er ihn in jener art anspräche. wie sich es ja dann auch als richtig herausstellte.

ikkyu sojun wurde, nach den traditionellen quellen, im jahre 1394 geboren, als natürliches kind des kaisers go komatsu und einer hofdame aus dem fujiwara clan am kyoto hof. die kaiserin, zornig über den seitensprung des kaiserlichen gatten, verbannte die schwangere hofdame in eines der ärmeren viertel kyotos, in dem ikkyu dann geboren wurde. wie üblich zu dieser zeit gab man uneheliche kinder von adligen wie ihn zur mönchsausbildung. so kam er im alter von sechs jahren in kyotos ankokuji tempel.

seine große poetische begabung zeigte der junge bereits im alter von dreizehn jahren. er komponierte gedichte im chinesichen stil, eines am tag, keines mehr und keines weniger. mit fünfzehn schrieb er zeilen, die sofort überall rezitiert wurden. er war schon in diesen jungen jahren sehr auf seine unabhängigkeit bedacht, ein einzelgänger. vieles störte und ärgerte ihn am tempelleben, der heuchleriche snobismus, die klerikale karrieren über familienbeziehungen. er stichelte gegen seine mitmönche mit bissigen kommentaren.

mit siebzehn hatte ikkyu einen zenmeister, ken’o, mit dem er vier jahre lang zusammenlebte, bis zu ken’o’s tod. ken’o war bekannt für seine gelassenheit und den mitfühlenden umgang mit seinen schülern, um deren wohlergehen er sehr besorgt war. der verlust ken’o’s schmerzte ikkyu sehr. verglichen mit ihm wirkten andere zenmeister brutal und rücksichtslos und pedantisch, wenn es um die tempelrituale ging. als neuen lehrer wählte ikkyu einen harten und strengen meister der rinzai schule namens kaso sodon. der stammte aus der linie des daitoku-ji tempels, dessen beachtliche linie von meistern später zu hakuin führte (1686-1769), wohl einem der grössten zenmeister. kaso war sich der bedeutung einer solchen linie bewusst und erfüllte seine pflichten als abt vorbildlich. er zog es vor, in einem kleinen tempel in kataka zu leben, nicht weit von kyoto entfernt an den ufern des biwa-sees.

im alter von fünfundzwanzig durchdrang ikkyu, einem lied aus dem heike monogatari lauschend, ein koan (zen problem zur meditation), das kaso ihm gegeben hatte. er sprach immer wieder davon, dass dies der moment seines ersten kensho (erwachen)gewesen sei. doch die tiefgründigere erfahrung kam zwei jahre später. während er auf dem biwa-see in einem boot saß und zazen (sitzmeditation) praktizierte, hörte er den ruf einer krähe. im selben augenblick war er vollkommen erleuchtet.er eilte zu kaso, um sein satori bestätigen zu lassen, doch der meister sagte: „dies ist nur die erleuchtung eines arhats, du bist jetzt noch kein meister.“ ikkyus antwort: „dann bin ich glücklich, ein arhat zu sein, ich verabscheue meister.“ worauf kaso erklärte: „jetzt bist du wirklich ein meister.“

nach diesem erwachen blieb ikkyu bei seinem meister und pflegte ihn. kaso war nämlich wegen seiner fortschreitenden krankheit, einer zunehmenden lähmung der beine, ein pflegefall geworden und musste überallhin getragen werden. ikkyus unermüdliche hingabe und treue wurden legende:

mein sterbender lehrer
unfähig sich zu reinigen
nicht wie ihr schüler
die ihr bambus benutzt
ich reinigte seinen lieblichen arsch
mit blossen händen


kaso starb, als ikkyu fünfundreißig war. für den verwaist zurückgebliebenen mönch folgte die schwärzeste zeit seines lebens, voller klagen und trauer. dem selbstmord nahe begann er ruhelos umherzureisen, belastet mit den trümmern seines lebens. sein bisweilen schamloses verhalten in dieser schlimmen zeit wurde allgemein als skandalös empfunden. niemals versuchte ikkyu sich als heiliger zu stilisieren. er akzeptierte seine leidenschaften als natürlichen teil seines lebens, bekannte sich offen zu seiner schwäche für sake und die frauen. lief der tag schlecht, eilte er vom tempel zur kneipe und von dort ins bordell. krisen voller selbstzweifel und schuldgefühle waren die folge. er rettete sich vor ihnen durch die flucht in die einsamkeit seiner einsiedlerhütte in den bergen von joo:

zehn jahre voller wonnen im freudenhaus
jetzt allein in den bergen die pinien wie gefängnisgitter
der wind kratzt meine haut


ikkyu besaß auch noch eine einsiedelei in kyoto, die er katsuroan (blinder-esel-eremitage) nannte, aber öfter fand man ihn im daitoku-ji. doch immer mehr schmerzte ihn das zunehmende eindringen weltlicher angelegenheiten in das leben im haupttempel, er fand dies geradezu widerlich. ihn schauderte vor der geschäftlichen seite des religiösen. mit kasos nachfolger, yoso, der zwanzig jahre lang sein älterer mönch gewesen war, verband ihn eine intensive feindschaft, repräsentierte yoso doch alles, was ikkyu ablehnte an der damals üblichen praxis in den rinzai-tempeln, vor allem die wilde jagd nach zuwendungen und spenden aller art:yoso verteilt großzügig sinnlose geschenke im ganzen tempel

mein stil ist anders
ein regenmantel aus stroh
wandernd am fluss beim see


zehn tage nervöses getue der ganze tempel in roten bändern
wenn ihr mich sucht schaut nach in den kneipen
den hurenhäusern am fischmarkt


im jahre 1471, mit siebenundsiebzig, entflammte ikkyu leidenschaftlich für ein blindes mädchen, die dienerin am shuon’an-tempel in takagi war. er schrieb gedichte über ihre affäre, manche komisch, manche tiefgefühlt. er war sich der ungewöhnlichkeit der beziehung bewusst, ein alter zen-mönch verliebt sich in ein junges mädchen, doch sie blieben viele jahre zusammen, ikkyus gefühle für sie nahmen sogar noch an intensität zu.

ich liebe es meine junge neue blinde freundin mori
zu einem frühlingspicknik zu begleiten
ich liebe es ihr schönes offenes gesicht zu sehen
feucht von sexueller hitze glänzend

dein name mori bedeutet wald
wie die unbegrenzt frische lebenskraft deiner blindheit


als ikkyu das alter von zweiundachtzig erreichte, ausgeglichener, ruhiger und gelassener als je zuvor, ernannte man ihn zum abt des daitoku-ji. und oft drückte er sein fast kindliches erstaunen darüber aus, dass man ihm trotz seines lebenslangen unorthodoxen lebens eine solche hochrangige stelle geben hatte. er blieb dann allerdings oft weg vom daitoku-ji und lebte lieber bei seiner geliebten im shuon’an-tempel, wo er schließlich auch 1482 im alter von achtundachtzig jahren starb.

es wäre falsch, ikkyu nur als wüstling zu erinnern, der als freiester der freien der orthodoxie täglich ins gesicht gespuckt hat. die meisten seiner gedichte gehorchen dem strengen kanon des zen, weitergetragen und überliefert von den schülern des zen. zu den bekanntesten seiner zen-gedichte gehören zwei, die das konzept „form ist leere“ und „leere ist form“ zum inhalt haben, wie es auch zum ausdruck kommt im hridaya (der herz-sutra), einer der wichtigsten sutren des buddhimus’, die für die zen-schule von großer bedeutung ist.

leere ist form
wenn dann wie sie sind
weiße tautropfen sich sammeln
auf scharlachroten ahornblättern
beachte die scharlachroten perlen

form ist leere
der baum ist kahl
alle farben aller duft gegangen
doch schon tief im stamm unter der rinde
unbeachtet der frühling


takashi ikemoto, mein jüngst verstorbener partner bei dieser übersetzung,(aus dem japanischen) hat mich des öfteren auf die spirituelle und metaphysiche signifikanz solcher gedichte für die zen-gemeinschaft hingewiesen. wir betrachteten jedes wort und jeden satz von allen seiten, stets im bewusstsein vom range ikkyus, seines lebens, seiner kunst. unbeeindruckt von seinem oft unkonventionellen verhalten legten wir unseren schwerpunkt auf seine bedeutung als großer zen-lehrer, dessen einsichten viele schüler geleitet haben. murato shuko, der bedeutenste teemeister seiner zeit, war auch ein schüler ikkyus. so kam es, dass dieser ihn eines tages während eines besuches fragte, was er wohl von meister joshus ehrfurcht dem teetrinken gegenüber halte. der hatte, egal welche klagen oder ansichten seine schüler äusserten, immer mit dem selben satz geantwortet: „nehmt erst mal eine tasse tee.“ shuko schwieg und ikkyu reichte ihm eine tasse tee.in dem moment, da shuko die tasse an seine lippen führte, schrie ikkyu „kattsu“ und zerschlug mit einem hieb seines stabes die tasse in der hand des teemeisters. der teemeister verbeugte sich.„wie bist du?“ fragte ikkyu, „wenn du nicht das geringste bedürfnis nach einer tasse tee hast?“ shuko stand auf und machte anstalten, den raum zu verlassen.„halt,“ rief ikkyu. „wie bist du, wenn du tee getrunken?“ „das gras ist grün, die rose rot“ war shukos antwort. ikkyu lächelte zufrieden. trotz seiner berühmten inneren freiheit nahm er während seines ganzen lebens gewissenhaft die verantwortung gegenüber seinen schülern sowie den ritualen der tempelroutine ernst. wohl gerade wegen dieser ernsthaftigkeit passierte es immer wieder, dass ihm diese routine zum halse raus hing. dann verließ er den tempel und zog sich in die berge in kyotos hinterland zurück, fern von der kriecherischen zengemeinde, deren verhalten den privilegierten gegenüber ihn oft anekelte, vor allem ihre blindheit gegenüber der rohen gewalt der herrschenden gegen das volk.

im alter von siebenundvierzig
kam jeder um mich zu sehen
so ging ich fort


voller zorn zerriss er einmal jenes dokument, das ihm kaso auf grund seiner erleuchtung am biwa see verliehen hatte, das so genannte inka, das ihn berechtigte, zen zu lehren und den titel meister zu tragen. seine schüler klebten es wieder zusammen, woraufhin er es verbrannte.



mit einer für ihn wohl typischen geste, so stelle ich es mir vor, verließ ikkyu den tempel in richtung der nächsten kneipe und beendete die nacht im bordell. wer sind wir, die heutigen, jahrhunderte später, welten von ikkyu entfernt, sein ungewöhnliches leben zu beurteilen? die japaner verwirrt er ebenso, bis auf wenige ausnahmen. da sind die, die ihn rechtfertigen, und die, die ihm folgen. es wäre falsch sich vorzustellen, dass sie eher als wir tolerieren, aus bemühter exzentrik. obgleich sie an zen verhalten gewöhnt sind, wie die chinesen an taoistiches verhalten, sind da doch klare grenzen der toleranz, heute wie damals. es ist die totale freiheit, die er verkörperte, die ihn zu einer solch attraktiven figur machte und macht.was ist falsch daran, sich am körper zu entzücken, seine natürlichen bedürfnisse nicht zu verleugnen. welche autorität hat das recht, das sexuelle zu verdammen, wenn einer dabei vermeidet, schmerz und leid zu verbreiten. und wenn einer dabei beständig die wirklich goldene regel des buddhismus lebt: nicht offensiv und aggressiv zu leben, aber leidenschaftlich.da ist eine tiefberührende seite an „verrückte wolke“, wie er sich selber nannte und worunter er unter dem volk bald bekannt war.

es ist jener frühling,
den der alternde mensch auch in seinem winter erleben kann.
ich war ein alterblätterloser baum
bis wir uns trafen
grüne knospen blüten barsten aus der rinde
nun wo ich dich habe
vergesse ich nie was ich dir danke


der weißhaarige priester
in den späten achtziger,
ikkyu,singt laut jede nacht
zu sich selbst und dem himmel den wolken
weil sie sich
freiwillig gab
ihre hand ihr mund
ihre brüste
ihre langen feuchten schenkel


nicht nur ikkyu in seiner erfüllung hat seiner jungen blinden liebe mori zu danken, jeder zen bruder und jede zen schwester verdankt ihr vieles. denn in des wortes wahrster bedeutung erhöhte sie sein leben. inspirierte seine tage und hielt seinen zen geist klar. ein geist so klar und scharf, dass er selbst an seinem ende, als er wie alle meister seiner zeit sein sterbegedicht tuschte, es nicht lassen konnte, auch dort einen widerhaken einzubauen.

südlich des berges sumeru
wer versteht da mein zen
ruft nach meister kido
-auch dieser -
nicht einen cent wert


„eine krähe ohne mund: ikkyu“ ist eine großartige sammlung vieler der stärksten und ikkyu offenbarenden gedichte, vorgelegt in einer sehr freien und in hohem maße lebendigen übertragung von stephen berg, ikkyus bruder im geiste. eine sammlung, an der man sich erfreuen kann und die, da bin ich mir sicher, auch ikkyu erfreut hätte.lucien stryk

Fortsetzung folgt/oder:
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Ikkyu: Crow With No Mouth: 15th Century Zen Master
by Stephen Berg
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